Standortbestimmung und Herausforderungen (in) der Pflegeethik (Tag 1)

Pflegeethik als Gegenstand professionellen Pflegehandelns konturieren und realisieren (Prof. Dr. Annette Riedel, Prof. Sonja Lehmeyer; HS Esslingen)

Ziel des Beitrages ist es die Pflegeethik als genuinen Gegenstand professionellen Pflegehandelns herauszustellen und  zu konkretisieren. Hierbei werden die zentralen Ansatzpunkte und Prämissen der praktischen Umsetzung pflegeethischer Dimensionen im professionellen Pflegehandeln dargelegt und die Bedeutsamkeit entsprechender Qualifizierung professionell Pflegender herausgearbeitet.


Integrierte Ethikstrukturen – Ermutigung für eine Ethik im Berufsalltag? (am Beispiel der ambulanten und stationären Langzeitpflege) (Dr. Heidi Albisser Schleger, Basel)

Einführung und Problemstellung
Ethische Probleme im Einzelfall haben unterschiedliche Entstehungsbedingungen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene des Gesundheitssystems. Auf der Mikroebene können Umstände der individuellen Pflege- und Betreuungssituation die Berufspersonen vor ethische Fragen und Probleme stellen. Beispielsweise dann, wenn eine Klientin oder Bewohnerin mit einer hirnorganischen Erkrankung und mangelnder Compliance aus fachlicher und ethischer Sicht unangemessen gepflegt, behandelt oder betreut ist. Andererseits gibt es strukturelle Entstehungsbedingungen für ethische Probleme im Einzelfall: Auf der Mesoebene, der institutionellen Ebene, können z. B. organisatorische Mängel oder zu wenig qualifiziertes Personal dazu führen, dass eine Bewohnerin mit massiven Angstattacken unwürdig verstirbt. Auf der Makroebene ist etwa Ressourcenmangel eine gesundheitspolitische Rahmenbedingung, die im Einzelfall zu ethischen Problemen führt. Z. B., wenn notwendige Pflege im Einzelfall nach Gutdünken vorenthalten wird oder werden muss, was beispielsweise die ethischen Prinzipien der Hilfeleistung, Schadensvermeidung oder Gerechtigkeit verletzt.
Dabei stellt sich folgendes Problem: Ethische Entscheidungsmodelle, wie wir sie heute zur Problemlösung im Einzelfall verwenden, haben auf ethische Probleme, die strukturelle Entstehungsbedingungen haben, eine unzureichende Wirkung.

Die Pflegenden der Langzeitversorgung sind häufig die Gatekeeper des ethischen Handelns im Einzelfall. Sie sind entsprechend ausgebildet und sensibilisiert. Gleichzeitig haben sie auf strukturell bedingte ethische Probleme oft nur geringen Einfluss. Eine als unzureichend oder entwürdigend wahrgenommene Pflege, Behandlung und Betreuung bleibt bestehen. Sie sind gezwungen, Folgen von ungenügend behandeltem physischem, psychischem oder sozialem Leiden – da Langzeitpflege – über oft längere Zeit auszuhalten bzw. zu ertragen. Das kann zu Moral Distress inkl. der nachgelagerten Folgen für sie persönlich, die Klienten und Bewohnerinnen und die Institution führen.

Problemlösung

Die sogenannte integrierte Ethikstruktur ist ein Modellvorschlag für Fachkräfte der Langzeitinstitutionen, die Ethik implementieren möchten. Sie hat zum Ziel, dass sich nicht nur individuell bedingte, sondern auch strukturell bedingte ethische Probleme im Einzelfall eher lösen lassen.
Es handelt sich dabei nicht um ein fertiges Modell, sondern um eine Auslegeordnung, welche die Berufspersonen ermutigen soll, mit Blick auf die jeweiligen lokalen Gegebenheiten und Ziele eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene wirksame Ethikstruktur zu entwickeln


Aufgaben und Rollen in der Ethikarbeit: Eine Praxisreflexion (PD. Dr. Jürgen Wallner, Wien)

Hintergrund. Die Ethikarbeit in Gesundheitseinrichtungen blickt mittlerweile auf mehrere Jahrzehnte an Praxis und Reflexion zurück. Sie umfasst im Kernbereich Fallberatungs-, Policy- und Bildungsarbeit, zusätzlich oftmals Forschung und Organisationsentwicklung. Angesichts dieser vielfältigen Aktivitäten wurde die Frage laut, inwieweit die Ethikarbeit eine professionelle Entwicklung benötigt, um im institutionalisierten Kontext des Gesundheitssystems eine nachhaltige Wirkung entfalten zu können und von den Stakeholdern ernstgenommen zu werden.Fragestellung. Welche Aufgaben stellen sich, und Rollen sind nötig, um die Ethikarbeit in Gesundheitseinrichtungen nachhaltig zu institutionalisieren?Methode. Die Fragestellung wird durch einen methodischen Dreischritt beantwortet: (1.) Bestandaufnahme der normativen Vorgaben; (2.) Reflexion der erfahrenen Praxis im Ethikprogramm der Barmherzigen Brüder Österreich und anderer Gesundheitsrichtungen; (3.) Synthese zu Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung der Ethikarbeit.Resultate. Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen ist die Hypothese, dass die Ethikarbeit im Gesundheitswesen nur dann nachhaltig institutionalisiert werden kann, wenn sie sich eine Professionalisierung stellt. Dies wird von normativen Vorgaben für den Aufbau und die Steuerung von Ethikprogrammen, für die Qualifizierung und das Kompetenzmanagement der in der Ethikarbeit Tätigen sowie für die Durchführung der ethischen Fall- und Policyarbeit unterstützt, wie sie von der American Society for Bioethics and Humanities (ASBH) und der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) entwickelt werden. Die Praxiserfahrung zeigt, dass die Ethikarbeit in Gesundheitseinrichtungen wachsen kann, wo sie diese normativen Vorgaben als Schritte der Professionalisierung ernst nimmt. Dazu gehört eine Ethik-Governance, die Aufgaben, Rollen und (Aufbau- und Ablauf-)Strukturen der Ethikarbeit definiert und steuert. Eine zentrale Herausforderung stellt dabei die Verschränkung von ethischer Expertise mit der fachlichen Expertise der Gesundheitsberufe und der organisationalen Expertise des Managements dar.Schlussfolgerung. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ethikarbeit ein integraler Bestandteil der Gesundheitseinrichtung ist, steigt dort, wo sie zu einem Unterfangen wird, das multiprofessionelle Laienstrukturen aufhebt.


Pflegeethik und interprofessionelle Gesundheitsethik (Tag 3)

Die sozialethischen Herausforderungen der Pflege- und Gesundheitsethik (Prof. Dr. Constanze Giese, Kath. HS München)

Der Vortrag beschäftigt sich mit dem Potential einer sozialethischen Perspektive auf Fragen der Gesundheitsversorgung am Beispiel der Pflege, die derzeit einmal mehr an Fachkräftemangel leidet, mit allen Konsequenzen für die Versorgungsqualität und Versorgungssicherheit der Patienten aber auch für die sich weiter verschlechternden Arbeitsbedingungen durch Arbeitsverdichtung.
Nicht erst der ICN-Ethikkodex weist der Pflege als Profession berufspolitische Verantwortung und den Einsatz für adäquate Arbeitsverhältnisse zu. Dies ist auch Stand der Diskussion zur Pflegebildung und Gegenstand vielfältiger auch berufsethischer Appelle an die Berufsgruppe, ohne dass dies de facto zu einer Veränderung hinsichtlich des Organsationsgrades oder des berufspolitischen Engagements geführt hätte.
Im Vortrag wird nach den Ursachen dieser berufspolitischen Passivität und Machtlosigkeit gefragt. Die „Ungerechtigkeitstheorie“ der Five Faces of Oppression (Fünf Formen der Unterdrückzung) von I. M. Young bietet sich als plausibles Erklärungsmodell wie auch als ersten Schritt der Problembearbeitung an: In den sogenannten Unterdrückungsformen der Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, des Kulturimperialismus und der Gewalt zeigen sich pflegetypische Konstellationen, die den gesellschaftlichen Diskurs über Pflege (und deren historisch immer wiederkehrenden Mangel) wie auch den Alltag in den Institutionen prägen und dysfunktionale Wahrnehmungs- und Problemlösungsprozesse perpetuieren. Ein Entdecken dieser Zusammenhänge kann auch dazu beitragen, dass die bislang wenig erfolgreiche Forderung nach berufspolitischem Engagement an die Pflegenden nicht nur ein weiterer unerfüllbarer ethischer Appell unter vielen bleibt, sondern berufspädagogisch und berufspolitisch fruchtbarer bearbeitet werden kann als bislang.


Für eine solidarische Gestaltung der Gesundheitssysteme – Kriterien, Perspektiven, Praxis Dr. Katharina Kieslich, Wien)

Das Solidaritätsprinzip dient als Grundlage für die Gestaltung von Gesundheitssystemen, insbesondere in Kontinentaleuropa. Die konkreten konzeptionellen und praktischen Bedeutungen des Solidaritätsprinzips einerseits, sowie die Wirkkraft des Prinzips auf Gesundheitssysteme und Akteure andererseits, sind jedoch oftmals nicht leicht zu erfassen. Dieser Vortrag wird eine Einführung in die aktuellen Definitionen und Anwendungen des Solidaritätsbegriffs auf Grundlage von Prof. Barbara Prainsacks (Universität Wien) und Prof. Alena Buyxs (Technische Universität München) wegweisender Weiterentwicklung des Konzepts geben. Strukturelle, politische und soziale Rahmenbedingungen für die solidarische Gestaltung von Gesundheitssystemen werden beleuchtet. In einem zweiten Teil des Vortrags wird auf Grundlage der langjährigen Forschungserfahrung der Vortragenden in England ein vergleichender Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der solidarischen Gestaltung von Gesundheitssysteme präsentiert. Die mögliche Wirkkraft des Solidaritätsbegriffs auf aktuelle Herausforderungen von Pflegenden und Pflegeberufen werden skizziert, sowie ein Handlungsrahmen für die zukünftige Gestaltung von solidarischen Gesundheitssysteme geschaffen.


Patientenrechte wahrnehmen: Stakeholderbeteiligung für mehr Mitbestimmung aller relevanten Gruppen (Verw. Prof. Dr. Sabine Wöhlke/ Julia Perry M.A., Uni Göttingen)

Neue Arten der Datenspeicherung wie beispielsweise die elektronische Patientenakte (ePA), lassen Patient*innen zukünftig mitbestimmen, ob Daten in der elektronischen Akte gespeichert werden oder nicht. Gespeichert werden u.a. Befunde, Diagnosen, Therapiemaßnahmen, Behandlungsberichte etc. Aber auch durch gesetzliche Änderungen wie beispielsweise die des Deutschen Arzneimittelgesetzes – welche sich auf die Verwendung von Forschungsvorausverfügungen zur Einbindung nichteinwilligungsfähiger Personen in gruppennützige Forschung bezieht – werden Formen der Mitbestimmung und Teilhabe gefördert. Mit diesen Entwicklungen werden neue Dimension der Patient*innen-/ Probandenbeteiligung in Aussicht gestellt. Durch die Nutzung gewonnener Daten, der Verantwortungsübernahme von gesundheitsrelevanten Daten oder durch den möglichen Einbezug potentiell nichteinwilligungsfähiger Personen in Forschungsvorhaben, wird es somit notwendig die Präferenzen und Bedürfnisse der relevanten Personengruppen sogenannter Stakeholdern zu erfassen.
Stakeholder-Beteiligung in der Gesundheitsforschung bietet in Form von Partizipation einen Ansatz zur kollektiven Teilhabe an gesundheitspolitischen Entscheidungen und wird zunehmend auch aktiv gefordert, um die Perspektiven von Betroffenen und weiteren Stakeholdern in die Erarbeitung von Regelungen und Gesetzen einzubeziehen (Leopoldina 2014). Stakeholder lassen sich dabei als Personen, Gruppen oder Institutionen verstehen, die einen normativen Anspruch auf Beteiligung und Mitbestimmung haben (Hansen et al. 2018). Allerdings bleibt oftmals unklar, wie diese partizipative Begrifflichkeit sowohl normativ als auch praktisch gerechtfertigt werden kann und soll und inwiefern Rollenkonformität, individuelle Interessen vs. Organisationsinteressen und daraus mögliche resultierende Konflikte zu bewerten sind. In partizipativen Diskursen wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Interessen verschiedener Stakeholder abweichen können. Es müssen Anstrengungen unternommen werden, um eine transparente Teilnahme zu gewährleisten und vielfältige Stimmen in Form von Teilhabe in einen Diskurs gleichberechtigt einfließen zu lassen.
Vor diesem Hintergrund widmet sich der Vortrag einerseits der Frage, wie Mitbestimmung und Partizipation durch Stakeholderbeteiligung gefördert werden kann und wie oftmals unterrepräsentierte Stakeholder, wie die der Pflege, stärker in gesundheitspolitische Diskurse eingebunden werden können, da deren Perspektiven von höchster Relevanz sind. Andererseits soll die empirische Relevanz von Stakeholderbeteilung am Beispiel von Laien und Patient*innen zu ihrer prospektiven Einschätzung der Nutzung prädiktiver Gentests aufgezeigt werden, um so konkrete ethische Fragen in Bezug auf Partizipationsanspruch, -recht und -umsetzung kritisch zu reflektieren. Daraus folgt, dass ein normativ gehaltvoller Mitbestimmungs- und Partizipationsbegriff nicht nur die einfache Teilnahme an Forschung beinhaltet, sondern immer auch als Teilhabe an den Entscheidungen zu verstehen sein sollte.